Wie schreibt man einen Hit, der ewig um die Welt geht und nie aus der Zeit fällt? So zum Beispiel: erste Strophe und Refrain (A), zweite Strophe und Refrain (A), Brücke (B), Refrain mit Tonartwechsel, moduliert um einen Ton nach oben (A). „I Wanna Dance with Somebody (Who Loves Me)“, komponiert von Boy Meets Girl für Whitney Houston, läuft seit 35 Jahren. Noch zehn Jahre nach dem Tod der Sängerin kam gerade eine Filmbiografie unter dem Titel ihres größten Hits ins Kino.
Gleichzeitig beklagt die Popmusik den tragischen Verlust ihrer erfolgreichsten Gestaltungsmittel: Brücke und Modulation. Das Zwischenspiel zum Spannungsaufbau und der Stimmungswechsel durch den Sprung in eine andere Tonart drohen zu verschwinden. Chris Dalla Riva, ein amerikanischer Musikanalyst, hat alle Hits der Billboard-Charts seit 1958 untersucht und die Ergebnisse unter dem Titel „The Death of the Key Change“ auf der Plattform Tedium veröffentlicht. Zwischen den Sechziger- und Neunzigerjahren wechselte ein Viertel aller Hits die Tonart innerhalb des Songs. Im 21. Jahrhundert ging es mit dem Modulieren stetig abwärts. Dalla Rivas Diagramm nähert sich seit 2010 der Null. Ein einziger Hit mit Tonartwechsel schaffte es während der Zehnerjahre in die amerikanischen Top-100: „Sicko Mode“ von Travis Scott.
Der Bridge, der Brücke, geht es ähnlich. Im Gespräch mit Rick Beato, einem YouTuber, der mehr als drei Millionen Abonnenten damit unterhält, die Produktionsverhältnisse der Popmusik zu offenbaren, weinte Sting der Brücke bereits nach: „Sie ist verschwunden. Stücke werden simpler, die Strukturen einfacher. Die Brücke war für mich wie eine Therapie. Ohne sie wird der Song zur Falle. Man dreht sich im Kreis, ohne befreit zu werden.“
Quelle: Die Zeitung Die Welt vom 01.01.2023 online